Karthago: Von der Kolonie zur Weltmacht

Karthago: Von der Kolonie zur Weltmacht
Karthago: Von der Kolonie zur Weltmacht
 
Die Geschichte von der Gründung der Stadt Karthago liest sich teilweise wie ein Märchen: Hauptperson ist Elissa, von Vergil Dido genannt, Tochter des Königs Mattan von Tyros. Im Kampf um die Thronfolge kommt es zur Spaltung des Stadtadels. Dido und ihren Anhängern gelingt es, sich der tyrischen Getreideflotte zu bemächtigen, die gerade nach der Rückkehr von erfolgreicher Handelsfahrt im Hafen liegt.
 
So nimmt das Unternehmen seinen Anfang: Man segelt zunächst nach Zypern, wo schon früher phönikische Niederlassungen gegründet worden waren — Kition (heute Larnaka) und Amathus —, dann zum Golf von Tunis, an dessen westlichem Rand ebenfalls schon eine ältere phönikische Niederlassung besteht: Utica. Deren Bürger und auch die einheimische Bevölkerung im Umland gestatten den Flüchtlingen die Niederlassung, und die Prinzessin Dido erwirbt das geeignete Gelände auf der Spitze einer von Westen in die Bucht von Tunis sich vorschiebenden Landzunge.
 
In diesem Zusammenhang wird immer wieder eine merkwürdige Geschichte erzählt: Elissa/Dido habe von den Einheimischen ein Stück Land gekauft, »so groß, wie es eine Ochsenhaut decken oder halten kann«, dann aber diese Ochsenhaut in so schmale Streifen schneiden lassen, dass man damit ein Gebiet von 22 Stadien (etwa 4 km) Umfang abstecken konnte. Deswegen trage der alte Stadtkern Karthagos den Namen Byrsa (griechisch: Ochsenhaut). Natürlich erzählte man diese Geschichte, um daran die besondere Verlogenheit der Karthager zu demonstrieren, die gleichsam von Anfang an offenbar geworden sei; auf der anderen Seite aber fällt es schwer, sich vorzustellen, die Karthager hätten dem Zentrum ihrer Stadt einen griechischen Namen gegeben. So hat man schon im Altertum vermutet, hinter dieser Geschichte verberge sich die Tatsache, dass die Stadt zweimal gegründet worden sei und erst den Namen Byrsa (schon für die antiken Autoren von unklarer Wortbedeutung) erhielt, dann den Namen Kart-Hadascht (»Neue Stadt«).
 
In der Tat würde sich so auch ein zweites Problem auflösen, nämlich die Tatsache, dass maßgebliche Historiker der Alten Welt für Karthago das Gründungsjahr 814/813 v. Chr. überliefern, die archäologische Forschung dagegen die ältesten Siedlungsschichten nicht früher als etwa 760 v. Chr. ansetzen will. Dazu kommt die bei Ausgrabungen in jüngster Zeit gemachte Beobachtung, dass es etwa um 675 v. Chr. anscheinend noch einmal zu einem Zustrom von Neusiedlern kam. Das wäre auch nach der allgemeinen politischen Entwicklung an der Levanteküste plausibel, da nach unzweifelhaften Nachrichten im Jahre 677 v. Chr. der Assyrerkönig Asarhaddon die Stadt Sidon völlig zerstörte, wobei auch die anderen Phönikerstädte sehr wahrscheinlich schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden.
 
Wie auch immer die verworrene Überlieferung zu deuten ist, die Stadt wird erst etwa ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. regelmäßig mit dem Namen »Neue Stadt« belegt, mit demselben Namen also wie zuvor schon eine der frühesten phönikischen Niederlassungen in »Übersee«, Kition auf Zypern. Aus dem phönikischen Kart-Hadascht haben die Griechen dann Karchedon, die Römer Carthago gemacht.
 
Die Nachrichten über Karthagos Gründung sind im Übrigen sicher auch deswegen so widersprüchlich, weil wir nur aus griechischen und römischen Quellen schöpfen können. Diese aber sind im Hinblick auf die Geschichte der Karthager und Phöniker im Allgemeinen zumindest ungenau. Denn zum Ersten verfügten die antiken Historiker hier selbst nur über mangelhaftes Quellenmaterial — Bibliotheken und Archive waren sowohl in Karthago wie in Tyros zerstört —, zum Zweiten gaben sie sich offensichtlich keine besondere Mühe, zum Kern der Überlieferung vorzustoßen, handelte es sich doch für sie nur um »Barbarengeschichte«; weiter sind diese Quellen meistens von Missgunst oder von Verachtung gegenüber dem Andersartigen geprägt, ja gelegentlich von Rassenhass. Und schon gar nicht geben diese »auswärtigen« Geschichtsquellen Auskunft über die gesellschaftlichen Strukturen und die »innenpolitischen« Entwicklungen des karthagischen Staatswesens.
 
Es ist also im Grunde gar nicht verwunderlich, dass die griechischen und römischen Historiker, die uns die Gründungsgeschichte überliefern, diese mit legendenhaften Zügen und manchen anderen romantischen Einzelheiten ausgeschmückt haben. Vergil (70—19 v. Chr.), poeta laureatus am Hof des Kaisers Augustus, hat sie überdies noch mit dem Äneasabenteuer, also der Gründungsgeschichte Roms, verbunden. Trotzdem aber ist unter der »hübschen« Verpackung im Kern vermutlich doch ein gewisses Stück histori- scher Wahrheit verborgen. Diese Überlieferung nämlich wirft ein bezeichnendes Licht auf die besondere soziologische Struktur der Stadtgründer. Während sich in den phönikischen Handelsfaktoreien im westlichen und zentralen Mittelmeerraum wohl vor allem Spezialisten niedergelassen hatten, Kaufleute, Dolmetscher, Handelsvertreter, Handwerker und Techniker, war die Situation in Karthago eine andere: Hier handelte es sich um eine »politisch« definierte Teilbevölkerung, die Anhänger einer Partei, also wohl um einen mehr oder weniger vollständigen Querschnitt durch die Gesamtbevölkerung der Heimatstadt Tyros.
 
 Aufstieg zur Macht
 
Über den Aufstieg der nachmals so mächtigen Stadt sind wir denkbar schlecht unterrichtet. Wieder stammen alle historischen Zeugnisse von einiger Bedeutung stets aus der Feder der »Anderen«.
 
Angeblich um die Mitte des 7. Jahrhunderts wurde von Karthago aus eine Niederlassung auf den Balearen gegründet, Ebusos (phönikisch Ibusim, »Insel des Bes«), das heutige Ibiza auf der gleichnamigen Insel. Dort waren nach den Ergebnissen der jüngeren archäologischen Forschung allerdings zunächst Phöniker ansässig gewesen, die aus Südspanien gekommen waren und vermutlich die wichtige Fernhandelsroute zu den südwestandalusischen Silberminen sichern sollten. Die Neugründung durch die Karthager scheint ein erstes militärisch-politisches Ausgreifen in den westlichen Mittelmeerraum zu signalisieren. Aber auch jetzt standen vielleicht eher merkantile Interessen im Vordergrund. Noch um 580 v. Chr., als der aus Knidos stammende »Condottiere« Pentathlos sich an der Spitze von Auswanderern aus Rhodos und Knidos in Westsizilien niederlassen wollte, waren die dort seit rund 150 Jahren siedelnden Westphöniker aus Motya, Panormus (Palermo) und Soloeis (Solunto) und die um Segesta wohnenden, einheimischen (?) Elymer durchaus in der Lage, sich allein gegen die Eindringlinge zur Wehr zu setzen. Karthago jedenfalls wurde nicht zu Hilfe gerufen.
 
Das politische und militärische Kräfteverhältnis änderte sich allerdings rasch, und zwar im Zusammenhang mit der Unterwerfung von Tyros, dem Vorort der phönikischen Expansion, durch den babylonischen König Nebukadnezar II. im Jahre 573/572 v. Chr.
 
Die Westgriechen: Der ewige Feind?
 
Die sizilischen Griechen — vor allem die mächtigen poleis der Südküste, Akragas (Agrigent) und Selinus (Selinunt) — müssen Morgenluft gewittert haben: Offensichtlich konnten sie die vermutlich doch ursprünglich von Tyros gegründeten phönikischen Städte und die mit ihnen verbündeten Elymer so sehr in Bedrängnis bringen, dass diese nun um den Preis der eigenen Selbstständigkeit die inzwischen zu einer mediterranen Führungsmacht aufgestiegene Stadt Karthago zu Hilfe rufen mussten.
 
Der karthagische Heerführer Malchus warf die sizilischen Griechen erwartungsgemäß zurück. Er sollte auch das karthagische Kontingent anführen, das den in einzelnen Fällen schon im 9. Jahrhundert v. Chr. nachweisbaren, zumeist aber wohl im 8. Jahrhundert gegründeten phönikischen Kolonien auf Sardinien — unter anderen Nora, Sulcis und Tharros — zu Hilfe geschickt wurde. Dort sah man sich einer immer bedrohlicher werdenden Offensive der einheimischen Sarden ausgesetzt, und auch dort hatte Karthago nach dem Fall von Tyros nun ganz handfeste wirtschaftliche Interessen zu vertreten. Dieser Auftrag aber wurde dem ansonsten nicht ungeschickten Feldherrn zum Verhängnis. Nach einer empfindlichen Niederlage aus seiner Vaterstadt verbannt, hatte er diese belagert und zunächst erobert, konnte jedoch trotz der anfänglichen Erfolge seine Gegner nicht entmachten. Schließlich wurde er gefangen genommen und hingerichtet.
 
Doch im Norden des Tyrrhenischen Meeres kündigte sich derweil aufs Neue eine bedrohliche Entwicklung an: Um die Wende zum 6. Jahrhundert v. Chr. oder bald danach hatten die im nordwestlichen Kleinasien beheimateten griechischen Phokäer am Ostrand des Golfe du Lion und nahe der Rhônemündung die Stadt Massalia, das heutige Marseille, gegründet. Die geostrategische Bedeutung Massalias war bestimmt durch seine Lage am Einfallstor nach Südfrankreich; weiter nördlich erschloss sich über die Burgundische Pforte der Weg nach Mitteleuropa. Damit ließ sich von hier aus auch der Kulturraum der Kelten erschließen, deren Fürsten bereits Beziehungen zum Mittelmeergebiet unterhielten. So war der rasche wirtschaftliche Aufstieg dieser spätesten unter den westmediterranen Griechenstädten gleichsam vorprogrammiert.
 
Um 565 v. Chr. hatten nun die Phokäer an der Ostküste Korsikas eine weitere Tochterstadt, Aleria (Alalia), gegründet. Der von der Jahrhundertmitte an im Osten steigende Druck durch das expandierende Perserreich führte bald weitere Neusiedler aus Phokäa heran, die sich der Gefahr rechtzeitig entziehen wollten.
 
Diese phokäisch-griechischen Aktivitäten — Piraterie und Seeräuberei gewiss eingeschlossen — riefen alsbald Karthago und die etruskischen Städte auf den Plan, allen voran Caere (Cerveteri), das ausweislich des Astarteheiligtums in seinem Hafen Pyrgi über alte Beziehungen freundschaftlich mit Karthago verbunden war. Die im neuen Operationsgebiet in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht etablierten Mächte mussten das massierte Auftreten der phokäischen Freibeuter als ernste Bedrohung und Herausforderung auffassen. Ohne Verzug wurde ein Waffenbündnis geschlossen, und die vereinte Flotte errang um 530 v. Chr. in den Gewässern vor Alalia einen entscheidenden Seesieg über die zahlenmäßig weit unterlegenen Phokäer, die Korsika wieder verlassen mussten.
 
In diesem Zusammenhang nun ist auch das Ausgreifen Karthagos nach Ibiza zu sehen. Die Antike kannte das Jahr 654 v. Chr. als Gründungsdatum von Ebusus und hielt die Stadt mit einem der schönsten Häfen im westlichen Mittelmeer für eine Niederlassung Karthagos. Die ältesten Siedlungsspuren auf der Insel, im Südwesten beim heutigen Sa Caleta, sind jedoch augenscheinlich auf Siedler aus den phönikischen Handelsfaktoreien an der spanischen Südküste zurückzuführen, während erst rund 100 Jahre später, von etwa 540 v. Chr. an, an den Funden von der Insel massiver karthagischer Einfluss abzulesen ist. Offenbar also sind in der historischen Überlieferung die beiden Ereignisse, einerseits die Gründung durch Westphöniker und andererseits die Inbesitznahme durch Karthago, zu einem einzigen verschwommen.
 
Die Annexion der westphönikischen Stützpunkte
 
Auch sonst besteht aufgrund der archäologischen Funde und Grabungsbefunde an phönikisch bewohnten bzw. geprägten Siedlungsplätzen im Westen ein berechtigter Anlass zu der Vermutung, dass um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Karthago, als Folge der mit dem Fall von Tyros verbundenen politischen Umwälzungen und der radikalen Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse im Ostmittelmeerraum, so etwas wie die Position eines Erben von Tyros eingenommen hatte bzw. nach und nach in diese Position hineingewachsen war. Die Feldzüge des Malchus auf Sardinien sind in diesem Kontext nochmals zu bedenken. Vor allem scheinen die alten westphönikischen Stützpunkte des tyrischen Fernhandels auf der Iberischen Halbinsel nun endgültig in den Sog der zum Vorort (Hauptort) der Phöniker im Mittelmeer aufgestiegenen Stadt Karthago geraten zu sein. Damit kommt die Geschichte der phönikischen Westexpansion in den Blick, auf die jene Handelsniederlassungen zurückzuführen sind.
 
 Die Phöniker im Mittelmeerraum
 
In zwei großen Schritten hatten die Phöniker sich die zu ihrer Zeit bekannte westliche Welt, den Mittelmeerraum, als Rohstoffquelle und als Absatzmarkt erschlossen. Der erste Schritt der »Expansion«, vom Ende der Bronzezeit bis in das 8. Jahrhundert v. Chr., war ein Wiederanknüpfen an eine fast vergessene Tradition transmediterraner Handelsbeziehungen im 3. und besonders im 2. Jahrtausend v. Chr., aber auch ein kühnes Vorstoßen in unbekanntes Terrain. Erst im zweiten Schritt, in der Phase der phönikischen »Präsenz« im Mittelmeerraum (um hier den nicht ganz zutreffenden Begriff der »Kolonisation« zu vermeiden), als auch die Griechen zu Expansion und Kolonisation schritten und damit zu Konkurrenten wurden, entstanden die phönikischen Niederlassungen, die ältesten davon im äußersten Westen.
 
Zwei verschiedene, räumlich und zeitlich sich überschneidende historische »Straten« (Schichten) sind also zu betrachten: Zum einen geht es um das handelnde Ausgreifen von Menschen aus den phönikischen Städten an der Levanteküste des Mittelmeeres, das heißt um eine gezielte Ausdehnung — Expansion — der Grenzen ihres Wirkens nach Westen. Zum anderen betrifft es feste Niederlassungen, hier und da gewiss von abhängigen Territorien umgeben, die nach ihrem kulturellen Erscheinungsbild als »phönikisch« bzw. später als »punisch« anzusprechen sind und als Handelsfaktoreien oder, mit gewissem Recht, als Kolonien gelten können.
 
Schriftzeugnisse und archäologische Spuren
 
Im Vergleich zu den anderen beiden altmediterranen Hochkulturen, denen der Griechen und der Römer, fehlt der phönikischen und punischen Kultur eine eigene literarische Überlieferung. Sie ist vollständig zerstört. Die ältesten Nachrichten über die »Expansion« finden sich in den Geschichtsbüchern der Bibel und in den homerischen Epen. Die Phöniker erscheinen hier als versierte Spezialisten, wie der Erzgießer Hiram, der in der Jordanaue die Geräte für das von Salomo errichtete Haus Jahwes anfertigt (1. Könige 7, 13—45), oder die Zimmerleute und anderen Handwerker des Königs Hiram von Tyros, die im Libanon das Zedernholz zurichten und an der Erbauung von Tempel und Palast Salomos beteiligt sind (1. Könige 5, 20 und 32). In dieselbe Kategorie gehören die kunstfertigen sidonischen Tuchweberinnen und -färberinnen, die Paris nach Troja an den Hof seines Vaters geholt hatte (Ilias6, 288—295).
 
Doch stehen im Vordergrund der Berichte über die Frühzeit der Expansion Erfolge und Erfahrungen der Phöniker im Fernhandel und im Handel überhaupt. Besonders spektakulär sind die nach der Art eines »Jointventure« von den Königen Hiram von Tyros und Salomo von Jerusalem alle drei Jahre unternommenen Fahrten nach Tarschisch/Tartessos (1. Könige 10, 22; Ezechiel 27, 12), die den Bodenschätzen Südspaniens galten. In die homerischen Zeugnisse mischen sich nach anfänglicher Bewunderung die geringschätzigen Untertöne, mit denen eine Feudalgesellschaft wie die archaisch-griechische der Lebenseinstellung der an Gewinn und Wohlstand orientierten orientalischen Händler ihre Missbilligung entgegenbringen mochte (Odyssee 15, 416).
 
Als Vorläufer der Westexpansion sind intensive Fernhandelskontakte zwischen dem Osten, der Ägäis und Sardinien archäologisch gut bezeugt. So hat sich Sardinien als wichtige Randprovinz der spätbronzezeitlichen Hochkultur in der Ägäis, der »Mykenischen Koine«, ausgewiesen. Dass auch die Iberische Halbinsel wenigstens am Rande dazugehörte, ist seit kurzem nicht mehr unwahrscheinlich. Neben dem Kupfer waren schon in der Bronzezeit gerade das Zinn und ebenso das Silber des Westens begehrte Rohstoffe.
 
In der Ägäis lassen sich vereinzelte orientalische Luxusimporte bereits während der »Dunklen Jahrhunderte« ausmachen. Im 10. und verstärkt seit dem frühen 9. Jahrhundert v. Chr. nahmen sie an Zahl zu und waren weit verbreitet, vor allem in reich ausgestatteten adligen Gräbern, dann auch in den griechischen Heiligtümern. Im weiteren Verlauf der Entwicklung kam es in den bedeutenderen griechischen Gemeinwesen wie Eretria auf Euböa, in Knossos und andernorts auf Kreta, vielleicht auch auf Samos und in Athen zur Gründung orientalischer Werkstätten, z. B. für Elfenbeinschnitzerei, Goldschmiedekunst, Toreutik (Treibarbeiten) oder Parfümherstellung; diese bildeten enoikismoi, »Einpflanzungen«, in fremdländischem Milieu.
 
Auf der Iberischen Halbinsel, einem nach den historischen Nachrichten wie dem archäologischen Befund deutlich erkennbaren Schwerpunkt der phönikischen Expansion, liegen im Vergleich zu Italien und Griechenland Verhältnisse von eigener Art vor: Dominierender Faktor für alle kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Südwesten der Halbinsel waren die reichen Erzvorkommen im Gebiet des Río Tinto und in der Sierra Morena, deren Ausbeutung spätestens in der Kupferzeit des 4./3. Jahrtausends v. Chr. einen, freilich bescheidenen, Anfang nimmt. Auf dieser uralten wirtschaftlichen Basis war in der Endbronzezeit, etwa um die Wende zum 1. Jahrtausend v. Chr., das entstanden, was die Phöniker und später die Griechen als das Reich Tartessos kennen lernen sollten und die biblischen Quellen mit dem Namen Tarschisch belegen. Sein legendärer Reichtum an Silber — und anderen Erzen — ist der Grund für eine starke phönikische Präsenz in der Bucht von Cádiz spätestens seit dem Beginn des 8. Jahrhunderts v. Chr.
 
Von etwa der Mitte des 8. bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. entstehen dann am Rande der oben beschriebenen Zielgebiete der Expansion sowie entlang der Fernhandelswege wohl die meisten jener zahlreichen kleineren und größeren Niederlassungen, von Mogador im äußersten Westen über die Südküste der Iberischen Halbinsel bis nach Sardinien, Sizilien und Malta sowie an der Mittelmeerküste Nordafrikas. Eine zusammenfassende Betrachtung lässt unschwer erkennen, wie sehr die Orientierung an den transmediterranen Wasserstraßen des von Ost nach West auf den Zugang zu den großen Erzlagerstätten des Altertums gerichteten Fernhandels das übergreifende Kriterium für ihre Gründung war.
 
 Die Außenpolitik Karthagos
 
So zeichnet sich für die karthagische Außenpolitik des 6. Jahrhunderts v. Chr. ein Bild ab, das zwar nicht eigentlich von militantem territorialem Expansionismus bestimmt ist — die Annexion von Ibiza scheint da in gewissem Sinne eine Ausnahme zu bilden —, die aber doch von der Anerkennung einer der Stadt gleichsam zugewachsenen Einflusszone, im Sinne von Übernahme eines herrenlos gewordenen »Erbes«, und durch das Bemühen um die langfristige Sicherung bestehender Handelswege und Wirtschaftsbeziehungen geprägt wird. Eindringlinge in diese merkantil (und kulturell?) definierte Interessensphäre wurden bekämpft, sobald sie eigene territoriale Ambitionen erkennen ließen oder die sorgfältig gehüteten Einflusszonen ernsthaft zu stören begannen. Dies musste gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. noch der Spartaner Dorieus erfahren, der mit einer Schar von Kolonisten aus seiner Vaterstadt zunächst in Tripolitanien an der Mündung des Kinyps eine feste Niederlassung zu gründen versucht hatte, gleichsam auf dem südostwärts gerichteten Glacis des übermächtigen Stadtstaates. Nur zu gern war daher Karthago den dort ansässigen Maken zu Hilfe gekommen und hatte dem griechischen Spuk nach zwei Jahren ein Ende gemacht. Dorieus aber gab nicht auf. Nachdem er daheim noch einmal Verstärkung gesammelt hatte, versuchte er sein Glück ein zweites Mal, nun in Westsizilien, in einer kurz vor 510 v. Chr. zu datierenden Expedition. Hier waren es die einheimischen Elymer von Segesta, die Karthago erfolgreich um militärische Hilfe baten: Es war dies ja wiederum auch ein Angriff auf die mächtigen Kontrolleure der Straße von Tunis, als die sich die Karthager inzwischen verstanden haben müssen. — Das für eine korrekte Einschätzung der geostrategischen Strukturen des Mittelmeers notwendige geographische Know-how kann man wie bei den Griechen erst recht auch bei Phönikern und Puniern voraussetzen: Schon für den milesischen Naturphilosophen Anaximander (um 610—546 v. Chr.) wird eine Weltkarte überliefert, die Hekataios von Milet verbessert haben soll und die vor dem Ionischen Aufstand gegen die Tyrannei der Perser eine Rolle gespielt hat.
 
Ein wichtiger Vertrag
 
Dasselbe geographische Wissen und die Bereitschaft zu einem daran orientierten politischen Handeln lässt auch der 1. karthagisch-römische Vertrag erkennen, der von dem griechischen Historiker Polybios in das Jahr 508/507 datiert wird und jedenfalls bald nach der Vertreibung der Tarquinierkönige aus Rom abgeschlossen wurde. Einzelheiten dieses für die Geschichte Karthagos eminent wichtigen Vertragswerks mögen in der Forschung umstritten sein — so etwa die Identität einer mit dem Namen »Schönes Vorgebirge« belegten Landspitze oder auch die Bedeutung der einen oder anderen Verbotsklausel —, ganz ohne Frage aber wird in dem überlieferten Text deutlich, dass Karthago in dieser Zeit, das heißt am Ende des 6. und im 5. Jahrhundert v. Chr., im Rahmen eines weit gespann- ten Interessenfeldes und Einflussgebietes über eine beträchtliche Machtfülle verfügte und sich nach außen hin unschwer entsprechenden Respekt zu verschaffen wusste. Konkret lässt sich erkennen, dass die Stadt auf Sardinien, im Westen Siziliens und ebenso in Libyen, womit der Südosten Tunesiens und das heutige Tripolitanien gemeint sind, als Vormacht akzeptiert wurde.
 
Wie dem auch sei, auf beiden Seiten bestand in dieser Situation Anlass zu einer Ordnung bzw. offiziellen Fortschreibung bestehender Verhältnisse: Dem aus dem Schatten der etruskischen Vorherrschaft heraustretenden Stadtstaat in Mittelitalien ging es zum einen um die allgemeine diplomatische Anerkennung, zum anderen um den Eintritt als anerkannter oder gar gleichberechtigter Partner in ein so offensichtlich prosperierendes Netz friedlicher Beziehungen in Handel und Wirtschaft. Karthago auf der anderen Seite musste daran interessiert sein, von vornherein die Gebiete zu markieren, außerhalb deren man die Aktivitäten der Fremden zuzulassen bereit war und in denen man selbst nicht gestört zu werden wünschte.
 
Für sich genommen, zeigt der 1. karthagisch-römische Vertrag, dass Karthago im internationalen Konzert der mediterranen Stadtstaaten (poleis) archaischer Zeit einen herausgehobenen Part spielte, aber zugleich doch auch eine polis war wie andere. An solcher Einschätzung dürfte sich auch dann nichts ändern, wenn die großen Übersee-Expeditionen ins Kalkül einbezogen werden, die von Karthago ausgingen. Beide, die Afrikaumsegelung durch Hanno den Seefahrer und die Nordmeerfahrt (nach Irland?) des Himilko, sind durch Periploi, eine Art Log- oder Fahrtenbücher, überliefert. Verstreute, oft unklar formulierte Hinweise in der geographischen oder sonstigen wissenschaftlichen Literatur der Antike kommen hinzu. Kein Wunder angesichts einer so desolaten Quellenlage, dass diese wohl um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. zu datierenden Entdeckungsfahrten — zur Erschließung neuer Rohstoffquellen?, zur Vorbereitung neuer Koloniegründungen? — eine unendliche, gelegentlich ins Spekulative abdriftende moderne Sekundärliteratur hervorgerufen haben.
 
Auch das phokäische Massalia zeichnet im Übrigen für solche Entdeckungsfahrten verantwortlich und war den Karthagern wohl auch schon einmal um einige Nasenlängen voraus in der heimgebrachten geographischen Kenntnis (der Schriftsteller Arno Schmidt hat dies zum Thema seiner Novelle »Gadir« gemacht).
 
Die Kolonisierung des Umlandes
 
Es hat unerwartet lange gebraucht, bis die Karthager vom fruchtbaren Umland wirklich Besitz ergriffen haben. Man hat vermutet, dass sie erst durch die Niederlage von Himera im Jahre 480 v. Chr. dazu veranlasst wurden, sich auch den etwas küstenferneren Regionen zuzuwenden. Eine archäologische Erkundung in unmittelbarer Umgebung von Karthago hat datierbare Funde schon des 7. Jahrhunderts v. Chr. ergeben, und die östlich die Bucht von Tunis abschließende Halbinsel von Kap Bon — heute wie vermutlich damals ein blühendes Gartenland — war sicherlich seit dem 6. Jahrhundert karthagisch besiedelt. Hier lagen an der Ostküste mit Kerkouane und Kelibia (griechisch Aspis, lateinisch Clupea) bedeutendere Städte. Schon im Tal von Segermes (nahe Zaghouan) jedoch, etwa 40 km südlich von Karthago, beginnt eine spärliche karthagische Präsenz erst mit dem 4. Jahrhundert v. Chr.
 
 Die Niederlage von Himera
 
Die reinen Fakten dieses an tatsächlichen ebenso wie an vorgeblichen Ereignissen überreichen Kapitels aus der Geschichte der Alten Welt sind rasch erzählt:
 
Im Rahmen der nie enden wollenden Rivalitäten zwischen den griechischen poleis in Süditalien und auf Sizilien hatte der Tyrann Theron von Akragas (Agrigent) um das Jahr 483 den Tyrannen Terillos von Himera aus seinem Besitz an der Nordküste Siziliens vertrieben. Dieser nun war durch Gastfreundschaft mit Hamilkar verbunden, dem zu dieser Zeit führenden Mitglied der mächtigen karthagischen Aristokratenfamilie der Magoniden, und hatte ihn um Hilfe gebeten. Schon im Jahre 480 v. Chr. hatte Hamilkar eine imponierende Streitmacht beisammen und zog gegen Himera, das sich schnell ergab; auch die Besatzer aus Akragas vermochten nichts gegen die Invasoren, die gekommen waren, dem angestammten Herrscher wieder auf den Thron zu helfen. Dem unterliegenden Theron kam jedoch sein Schwiegersohn, der in Syrakus herrschende Tyrann Gelon aus dem Geschlecht der Deinomeniden, mit einem Heer zu Hilfe. Das Blatt wendete sich: Die Karthager erlitten eine höchst verlustreiche Niederlage, ihr Feldherr fiel und verschwand auf mysteriöse Weise von der Walstatt; in mehreren Städten wurde ihm später ein Kenotaph (Scheingrab) errichtet.
 
Das merkwürdige zeitliche Zusammentreffen der siegreichen Feldschlacht von Himera gegen ein karthagisches Invasionsheer mit dem Seesieg der Athener bei Salamis im Saronischen Golf (480) und ungefähr auch noch mit der Feldschlacht von Plataiai ein Jahr später gegen das Perserheer hat schon die Zeitgenossen dazu gebracht, hier einen inneren, ursächlichen Zusammenhang zu sehen: Xerxes habe zur Absicherung seines Eroberungszuges, so hieß es, die Karthager veranlasst, den Griechen von Westen her in den Rücken zu fallen. Hamilkar habe in den drei Jahren von 483 bis 480 eine gigantische Armee von 300000 Mann rekrutiert, exakt so groß wie das ins griechische Mutterland eingedrungene Landheer des Persergenerals Mardonios. Eine solche Sicht der Dinge war umso verlockender, als man in West wie in Ost siegreich geblieben war: Man konnte sich rühmen, rundum das Hellenentum gegen die »Barbaren« verteidigt zu haben! Weihgeschenke wurden nach Delphi in das panhellenische Heiligtum des Apollon gestiftet, von den Deinomeniden wie von den Athenern, um die eigenen Verdienste herauszustreichen.
 
Die jüngste historische Forschung hat gezeigt, wie in diesen Jahren Geschichte »umgeschrieben« wurde, »frisiert« auf griechischen Vorrang schlechthin und in aller Welt und vor allem gegenüber dem »barbarischen« Orient, und wie nach dem Sieg bei Himera die Deinomeniden gleichsam »auf den fahrenden Zug« sprangen.
 
Denn der weitere Verlauf des Geschehens zeigt ganz deutlich, dass es zumindest im Westen gar nicht um so Grundsätzliches ging: Bemerkenswert rasch wurde Frieden geschlossen, und zwar zu verhältnismäßig günstigen Bedingungen; Reparationskosten in Höhe von 2000 Talenten Silber waren von der karthagischen Partei zu zahlen, dazu mussten die Aufwendungen für die Errichtung zweier Tempel übernommen werden.
 
Demarete, die Gemahlin Gelons, hatte insbesondere für die karthagischen Kriegsgefangenen eine schonende Behandlung erwirkt. Zum Dank dafür schenkten ihr die Besiegten einen goldenen Kranz im Wert von 100 Talenten. Sie aber ließ aus dessen Erlös Silbermünzen prägen, zur Bezahlung der Kriegsschulden, die Gelon sich aufgeladen hatte. Diese Münzen haben sich tatsächlich im Bestand der Münzprägung von Syrakus erhalten: die »Demareteia«, Silbermünzen im Wert von jeweils 10 Drachmen (Dekadrachmen).
 
Wie viel von dieser gern erzählten, legendenhaften Überlieferung wirklich historisch zuverlässig ist, lässt sich wohl nicht mehr ermitteln. Tatsache aber scheint zu sein, dass Gelon nach seinem Sieg, den er als Schwiegersohn des Theron errungen hatte, bei der polis von Syrakus für die Finanzierung seines Privatfeldzugs Schulden gemacht hatte und diese jetzt zurückzahlen musste! Denn ebenso wie der Feldzug Hamilkars war auch der des Gelon eine Hilfsaktion, wie sie unter den prominenten Vertretern der aristokratischen Führungsschicht üblich, bei bestehender Gastfreundschaft oder verwandtschaftlichen Beziehungen wohl auch Pflicht war.
 
Aus der Distanz betrachtet, bewegte sich Karthago nach der neuen, nüchternen Einschätzung von seiner und seiner Gegner Politik im Rahmen der normalen politischen Grundmuster der archaischen Adelsgesellschaft. Die Stadt bzw. ihre führende Aristokratie wurde eingebunden in jenes enge »internationale« Geflecht aus Freund- und Feindschaften, das hüben wie drüben aus der Verwirklichung oder der Vergeblichkeit von alten und neuen Gebietsansprüchen, territorialen Annexionsgelüsten, Eroberungs-, Verteidigungs- und Bündnisfeldzügen gewachsen war und durch diplomatische Vereinbarungen oder unter Umständen auch durch familiäre Traditionen am Leben erhalten wurde.
 
 Sizilien und kein Ende
 
Zwischen der Schlacht von Himera und dem Ausbruch des 1. karthagisch-römischen Krieges liegen gut zwei Jahrhunderte, die nahezu ausschließlich von den Auseinandersetzungen mit Syrakus und den westgriechischen Tyrannen bestimmt sind. Zunächst ein- mal scheint sich Karthago freilich aus Sizilien ein wenig herausgehalten zu haben. Noch die Kämpfe im Zusammenhang mit der Invasion der Athener, gegen Ende des Peloponnesischen Krieges, vollzogen sich im Wesentlichen ohne karthagische Beteiligung.
 
Erst im Jahre 410 v. Chr. entschlossen sich die Karthager auf Bitten der von Selinunt bedrängten Elymer von Segesta, auf Sizilien wieder militärisch einzugreifen. Von diesem Zeitpunkt an wird wohl zu Recht auch von einer karthagischen »Epikratie« (Vorherrschaft, Oberhoheit) in Westsizilien gesprochen. Wie sich zeigen sollte, wurde es von da an immer schwieriger, schließlich unmöglich, sich vom sizilischen Engagement zu lösen. Die unterschiedlichen politischen Vorstellungen und Handlungsmuster der beiden Mächte werden dabei ausschlaggebend gewesen sein: Auf der einen Seite stand Karthago mit seinem Anspruch auf die altertümlichen Handelsfaktoreien Motya, Panormus und Soloeis, der durch Herkunft und Tradition begründet war. Die »moderne« territoriale Dynamik von Syrakus auf der anderen Seite vertrug sich damit schlecht.
 
Wir hören von mächtigen Kriegsherren, von gnadenlosem Verschleiß der Truppen, von wechselhaftem Kriegsglück und vergeblichen Friedensschlüssen: Diese wurden in aller Regel bald wieder aufgekündigt. Unter den karthagischen Heerführern finden wir solche mit Allerweltsnamen wie Mago, Himilko und Hanno, unter den griechischen Protagonisten den Tyrannen Dionysios I. von Syrakus (405—367 v. Chr.), den aus Korinth herbeigeholten Feldherrn Timoleon (✝ 337) und den reichen Syrakusaner und späteren Tyrannen Agathokles (* 361, ✝289 v. Chr.), der als Erster seit Dorieus eine Invasion in Nordafrika wagte (310—307 v. Chr.) — und damit Karthago auf das Schwerste bedrohte.
 
Schließlich griff auch Pyrrhos, machtbewusster König von Epirus, in das sizilische Geschehen ein. 277 v. Chr. wurde die Bergfeste Eryx (heute Erice) erstürmt, die Burg von Heirkte auf dem Monte Castellaccio bei Panormus (Palermo) eingenommen. Die Karthager konnten nur mit Mühe das gegenüber der Insel Motya auf dem Festland gelegene Lilybaion (Marsala) als letzten Stützpunkt auf Sizilien halten. Doch wieder wendete sich das Kriegsglück. Bei seinem Abzug zwei Jahre später hinterließ der glücklose König ausgewogenere Verhältnisse, als er sie vorgefunden hatte; das alte sizilische Machtpotenzial Karthagos war im Wesentlichen wiederhergestellt, am Ende stärker als zu Beginn der sizilischen Kriege mehr als 200 Jahre zuvor. Mit Blick auf die sehr bald einsetzenden römisch-karthagischen (Punischen) Kriege ist es bedenkenswert, dass Karthago sich gegen Pyrrhos mit Rom verbündet hatte und schon vorher gelegentlich auch mit einzelnen sizilischen Griechenstädten gemeinsame Sache gegen andere Griechenstädte zu machen wusste, wenn es der Sicherheit und dem Frieden zu dienen versprach. Der Gang der Geschichte aber wurde von da an immer weniger durch Karthago bestimmt.
 
 Erbin von Tyros
 
Der Ruf der Phöniker als kundige Seefahrer und Handelspioniere ist den antiken Autoren vertraut gewesen. Noch der römische Schriftsteller Plinius der Ältere (1. Jahrhundert n. Chr.) war der Meinung: »Die Handelsgeschäfte haben die Punier (die Phöniker des westlichen Mittelmeerraums) erfunden.« Das seefahrerische Können und die ausgeprägte Handelstätigkeit der Phöniker hat die Zeitgenossen fasziniert, neben Bewunderung aber auch Neid hervorgerufen. Schon in den Gesängen Homers (8. Jahrhundert v. Chr.) werden sie als furchtlose Seeleute (und große Meister des Kunsthandwerks), als gewitzte, nicht selten rücksichtslose Händler und gefürchtete Piraten beschrieben. In den Berichten des Alten Testaments und in ägyptischen Texten lernen wir die Phöniker demgegenüber als seriöse, vertrauenswürdige Handelspartner kennen.
 
Dieses Erbe hat auch Karthago, die Tochterstadt von Tyros, getragen. Die Gestalt dieser Stadt aber war davon geprägt, das größte Zentrum der altorientalisch-semitischen Kultur der Phöniker im Mittelmeerraum zu sein. Und wie die anderen phönikischen Niederlassungen am Mittelmeer war auch diese Stadt am typisch orientalischen Siedlungsinventar und an einem charakteristischen Siedlungsmuster zu erkennen, so zum Beispiel an der geostrategisch wichtigen Orientierung an den maritimen Fernverkehrswegen, an der günstigen Hafensituation mit windgeschützten Schiffslandeplätzen und Reeden, an der Nähe zu wichtigen Rohstoffquellen bzw. Erzlagerstätten, an einer natürlich begrenzten, nicht zu großen Siedlungsfläche oder an der städtisch verdichteten Bebauung, der Bautechnik orientalischer Tradition und vielem anderem mehr.
 
Diese und andere Kriterien lassen sich geradezu lehrbuchmäßig an den vielen Handelsfaktoreien ablesen, die von den Phönikern am großen Fernhandelsweg nach Westen gegründet wurden. Und die meisten dieser Kriterien treffen auch auf Karthago zu. Die besonderen Umstände der Gründung dieser Stadt verlangten allerdings die Wahl eines geräumigeren Siedlungsplatzes.
 
 Heiligtümer, Wohnviertel, Werkstätten
 
Eine der berühmtesten Beschreibungen Karthagos stammt aus der Feder Vergils und findet sich in seiner »Aeneis«; mehrmals beschreibt der Dichter dort Bauwerke, die erst errichtet werden oder gerade fertig geworden sind, alles unter den gestrengen Augen der jungen Königin Dido und zur neidvollen Anschauung durch den Trojanerprinzen, der mit Sorge daran denkt, dass dies alles von ihm in Rom noch geleistet werden muss. Der Dichter beschreibt die in Entstehung begriffene Stadt mit großer Anschaulichkeit und nicht ohne Kenntnis — freilich nicht der realen Verhältnisse im archaischen Karthago um 800 v. Chr.; vielmehr dürfte er eine der vielen Großbaustellen vor Augen gehabt haben, die zu seiner Zeit im Zuge der Monumentalisierung der Städte des jungen römischen Kaiserreiches durch Augustus eingerichtet worden waren. Das Epos Vergils, obwohl es zu einem erheblichen Teil Karthago zum Schauplatz hat, ist also ungeeignet für eine Rekonstruktion.
 
Eine zweite Quelle für unsere Anschauung dieser so faszinierenden Stadt sind die topographischen Angaben in der dramatischen Belagerungsgeschichte von 146 v. Chr., die von Appian, einem griechischen Historiker der mittleren Kaiserzeit, überliefert werden; sie sind freilich nicht immer ganz präzise und haben deswegen viel Verwirrung gestiftet. Gern wüssten wir mehr, zum Beispiel über die großen Plätze und Kultstätten in der Stadt oder über ihre Bibliotheken, von denen berichtet wird. Noch vor 25 Jahren war umstritten, ob die beiden Lagunen bei La Goulette wirklich der etwas verlandete punische Kriegs- und Handelshafen waren.
 
Von den zahlreichen Heiligtümern, die diese Stadt allein nach den inschriftlichen Zeugnissen besessen hat, sind bisher nur wenige lokalisiert. Unter ihnen, in der Nähe des Tophets im Süden der Stadt, ein kleiner, rechteckiger Bau mit Altar an der Rückwand, die Chapelle Carton, und ein jüngst von Hamburger Archäologen unter dem Decumanus maximus, der Hauptstraße der römischen Stadt, freigelegtes Tanitheiligtum.
 
Das religiöse Leben
 
Die Kenntnis vom religiösen Leben der karthagischen Stadtbevölkerung konnte durch die Wiedergewinnung dieses im engen urbanen Verband gelegenen kleinen Heiligtums entscheidend erweitert werden. Der direkt von der Straße zugängliche Hauptraum ist in einen höheren östlichen sowie einen tieferen westlichen Teil gegliedert. Anlässlich einer Erneuerung, gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr., wurden in das wasserfeste Paviment in Mosaiktechnik fünf sakrale Embleme eingefügt, von denen die in der westlichen Raumhälfte gelegenen Symbole der Göttin Tanit, des Gottes Baal Hammon (ein Kreis mit eingesetztem Kreuz) und der Göttin Astarte (eine Rosette) von besonderer Bedeutung sind. Sinterspuren auf dem Fußbodenbelag des Raumes deuten darauf hin, dass hier regelmäßig Flüssigkeiten gespendet wurden, die sich im tiefer gelegenen Teil des Bodens in einer Mulde sammelten. Eine vielleicht vergleichbare Kultpraxis ist im syrisch-palästinischen Raum durch die Wasserfeier maiumas, in Griechenland durch das Fest der hydrophoria belegt.
 
Appian berichtet, dass die römischen Soldaten im Jahre 146 v. Chr. einen bei der punischen Agora gelegenen »Tempel des Apollon« (wohl einen Tempel des phönikischen Gottes Reschef) geplündert hatten. Mit diesem Heiligtum werden die Reste eines von der Mission des Deutschen Archäologischen Instituts ausgegrabenen spätklassischen Gebäudes gleichgesetzt, in dem über 3000 Tonsiegel gefunden wurden. Sie gehörten zu Papyrusurkunden, die im Tempelarchiv lagerten und vermutlich beim großen Feuer von 146 v. Chr. verbrannt sind. Der mit dieser Katastrophe verbundene Verlust an historischem Quellenmaterial, wie zum Beispiel Testamenten, Eheverträgen oder sonstigen Rechtsurkunden, ist kaum zu ermessen. Dies gilt umso mehr, als es sicherlich nicht nur ein einziges solches Archiv in der Großstadt Karthago gegeben hat.
 
Die architektonischen Reste dieses Tempels sowie das im Schutt der Hamburger Grabung gefundene Wasserspeierfragment eines zweiten Tempels bezeugen, dass sich die karthagische Monumentalarchitektur spätestens seit dem späten 5. oder frühen 4. Jahrhundert v. Chr., das heißt in mittelpunischer Zeit, der griechischen Formensprache bediente. Ganz unabhängig von den nie enden wollenden Kämpfen mit den sizilischen Griechenstädten waren doch auch in Karthago Kunst und Geschmack von griechischen Vorbildern bestimmt. Auch der Tempel des Eschmun, der unseren Quellen zufolge das Zentrum des Byrsahügels in der Mitte der Stadt einnahm, könnte also durchaus ein »griechischer« Tempel gewesen sein.
 
Von der äußeren Gestalt der vor allem literarisch überlieferten Heiligtümer nicht anders als vom jeweils praktizierten Kult entsteht leider nur eine ungefähre Vorstellung. Das gilt auch vom Tophet, einem Heiligtum eigener Art. Die dem Baal Hammon und der Tanit geweihte Kultstätte gilt auf besondere Weise als Inbegriff punischer Eigenart. Nach der antiken, karthagofeindlichen Überlieferung, das heißt nach dem ausführlichen Bericht bei Diodor (20, 14, 4—7), der im 1. Jahrhundert v. Chr. schrieb, sowie vor allem nach der hierauf beruhenden Schilderung in dem weltweit berühmt gewordenen historischen Roman »Salammbô« des französischen Romanciers Gustave Flaubert (1862 erschienen!) war diese unter freiem Himmel angelegte Kultstätte Schauplatz jener rituellen Kinderopfer, die noch heute den »öffentlichen« Ruf der phönikischen und punischen Religiosität nachhaltig bestimmen. Auch im Alten Testament finden sich Passagen, in denen die Bibelwissenschaft immer schon den sicheren Hinweis auf Kinderopfer für einen Gott Moloch erkennen wollte (zum Beispiel 2. Könige 23,10). Als dann der Tophet von Karthago und später die Tophets von Motya und in den phönikisch-punischen Siedlungen auf Sardinien gefunden und ausgegraben wurden, schien sich alles zusammenzufügen und das herrschende Vorurteil zu bestätigen.
 
Der grausame Gott Moloch allerdings ist nach einer scharfsinnigen Neuinterpretation der Quellen inzwischen von der Theologie selbst ins Reich der Fabel verbannt worden; war mit den Worten »durch das Feuer gehen« ein Ritus der Reinigung gemeint? Und von der Archäologie her gab es zu denken, dass Kindergräber in den punischen Friedhöfen fast völlig fehlen, ungeachtet der hohen Kindersterblichkeit in der Alten Welt. Solange die sehr lapidar formulierten Inschriften auf den Tophetstelen keine klare Auskunft geben und auch der archäologische Befund im Hinblick auf diese heiß diskutierte Frage nicht eindeutig ist, muss hier also eine Unsicherheit in der Deutung in Kauf genommen werden.
 
Die Wohnstadt
 
Das Leben in Karthago war von großstädtischem Zuschnitt; nicht nur vornehme Wohnviertel wie die entlang der Ufer zum Golf bestimmten das Bild, sondern auch gewerbliche Quartiere, wie wir sie an allen phönikischen Plätzen voraussetzen und zum Teil auch belegen können. Bereits in der frühpunischen Zeit, vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr., war die Stadt dicht besiedelt. Die Häuser grenzten unmittelbar aneinander und waren zu einer Art von »Häuserblocks« in ein mehr oder weniger rechtwinkliges System geordnet. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. trat an die Stelle der anfänglich vorherrschenden Lehmziegelbauweise eine ebenso alte, aber statisch sehr viel stärker belastbare orientalische Mauertechnik, das opus Africanum: grob zurechtgeschlagene Steinpfeiler mit kleinsteiniger Schüttung bzw. Packung — oder Lehmziegelfüllung — dazwischen. Die Mächtigkeit des erhaltenen Mauerwerks, besonders der tragenden Wände, sowie die zahlreichen Trümmer von Deckenkonstruktionen bezeugen, dass diese Häuser nun mehrere Stockwerke besaßen, die über Holztreppen zugänglich waren.
 
Zur Wasserversorgung gab es zunächst Schöpfbrunnen. Nach- dem diese jedoch spätestens im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. nach und nach versiegt waren, legte man Zisternen an, die um 10 m3 Wasser und mehr fassen konnten. Zur Abdeckung dienten Steinplatten, die mit einem mörtelähnlichen Belag oder mit einem wasserfesten Paviment abgeglichen wurden. Das farbige Aussehen der Fußbodenbeläge konnte durch in den Mörtel eingestreute Keramik- und Kalksteinsplitter bestimmt werden (opus signinum). In dieses Mörtelgemisch eingelegte, rechteckig bis quadratisch geschnittene Marmor- oder Kalksteinstücke (tessellae) sorgten zusätzlich für dekorativen Reiz. Farbintensiv waren die Mosaiken aus regelmäßig und auf Fuge verlegten tessellae aus Keramik, die gern für stark beanspruchte Böden in Korridoren, Höfen und Bädern verwendet wurden. Zur leichteren Reinigung dieser Räume wurde das untere Drittel der Wände ebenfalls mit dem opus signinum verputzt, während die oberen Wandbereiche und Zimmerdecken mit dem empfindlicheren weißen bzw. bemalten Kalkputz und abwechslungsreich geformten Stuckprofilen ausgekleidet waren.
 
Die Eingänge der Häuser öffneten sich auf befestigte Straßen mit sehr exakt gearbeiteten Abwasserkanälen oder auf kleinere Gassen. Diese bauliche Organisation wird bis zur Zerstörung der Stadt im Jahre 146 v. Chr. beibehalten.
 
Die durchschnittliche Wohnhausarchitektur war anfangs verhältnismäßig bescheiden ausgelegt, wie an einigen Stellen der modernen Villenstadt Carthage noch zu beobachten ist. Hier blieb unter den frühkaiserzeitlichen Planierungsschichten die Bausubstanz der archaischen Zeit noch mit unterschiedlicher Höhe erhalten. Mehrere an einer Straße gelegene Häuser sind in Resten zu erkennen; eines, um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr. errichtet und mehrfach umgebaut, mit freistehendem, etwa 5,5 m tief in den gewachsenen Boden eingesenktem Schöpfbrunnen im Hof, lässt sich vollständig rekonstruieren. Dieses Hofhaus steht in der Tradition spätbronzezeitlicher Häuser im Levantegebiet. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. wurde das Haus im Rahmen der alten Begrenzungsmauern in seiner Binnenorganisation zu einem »Vierraumhaus« umgestaltet, wie es in der frühen Eisenzeit in der Levante vielfach üblich war. Mit rund 70 m2 Grundfläche gehört es zu den kleineren Vertretern des Typus. Aber noch die »Einheitswohnungen«, die um die Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr. im Zuge der Urbanisierung der südöstlichen Byrsahänge errichtet wurden, waren nicht viel größer.
 
Das Wirtschaftsleben
 
Epigraphische, literarische und archäologische Zeugnisse machen die straffe Organisation des karthagischen Wirtschaftslebens deutlich. Aus den Dienstleistungsbereichen werden unter anderen der Arzt, der Schreiber und der Dolmetscher genannt. Bemerkenswert ist die berufliche Spezialisierung in der Warenproduktion. Hier sind vom Weber, Schreiner, Steinmetz und Metallgießer bis hin zu verschiedenen Herstellern von Luxusartikeln aus Elfenbein und Straußeneiern, aus Glas, Gold und Edelsteinen alle Sparten vertreten. Leistungsfähige Werkstätten und »Fabriken«, darunter auch die für Karthago typischen Purpurfärbereien, sicherten die umfangreiche Produktion des für den lokalen Markt und für den Export bestimmten Warenangebots. Für den Vertrieb sorgten Kaufleute, die im Bereich des Fernhandels von Reedern und Bankiers unterstützt wurden. Größte wirtschaftliche Bedeutung besaß der Handelshafen. Hier fanden außer den Schiffshäusern auch Warenlager Platz. Überhaupt standen, neben dem Ingenieurwesen allgemein, der Schiffbau sowie die Wasser- und Hafenbaukunst der Phöniker schon in der Antike in hohem Ansehen. Die Karthager haben noch in den letzten Jahren des gegen sie gerichteten Vernichtungskrieges mehrmals bewiesen, wie sehr dies berechtigt war. Und auch das römische Karthago benutzte das städtebauliche Konzept ebenso wie die ingenieurtechnische Einrichtung der punischen Zeit, in der Kriegs- und Handelsmarine über getrennte Häfen verfügten.
 
Über den allgemeinen Lebensluxus wissen wir wenig. Die Pflanzenreste in den Erdproben der Hamburger Grabung bezeugen, dass die Bedeutung der blühenden Landwirtschaft für das städtische Leben nicht zu unterschätzen ist. Der Tisch der karthagischen Familie war reich gedeckt: Im fruchtbaren Hinterland wurden vor allem Getreide (Weizen, Emmer, Gerste), Hülsenfrüchte (Bohnen, Linsen) und Obst (Feigen, Granatäpfel, Datteln) angebaut, ebenso gab es Olivenhaine und Weinfelder. Mohnsamen lassen vermuten, dass auch die berauschende Wirkung von Opium bekannt war. In frühpunischer Zeit wurden vor allem Rinder, Schafe, Ziegen, seltener Hühner verzehrt, während im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. der Genuss von Fisch, Mollusken und Schalentieren wohl zunahm. Die Schweinehaltung war selten und konnte lediglich für die Frühzeit Karthagos nachgewiesen werden.
 
Die Qualität vieler Produkte und angewandter Techniken, zum Beispiel aus dem Landwirtschafts-, dem Bau-, aber auch dem Militärwesen, muss vorbildlich gewesen sein. Dies wird vor allem daran deutlich, dass sie von den Römern übernommen und mit der Bezeichnung »punisch« wie mit einem Gütesiegel versehen wurden.
 
Das staatliche Leben
 
Für die Griechen der klassischen Zeit, die bekanntlich ebenso erfahrene wie anspruchsvolle Verfassungstheoretiker waren, besaß Karthago ein besonders wohl geordnetes Staatswesen. Denn, so die Worte des Philosophen Aristoteles, sie waren der Überzeugung, »dass man die Regierenden nicht der persönlichen Qualität wegen wählen dürfte, sondern auch nach dem Vermögen«. Freilich, dass der Reichtum in so hohem Ansehen stand, missfiel dem Moralisten und Erzieher Alexanders des Großen. Auf der anderen Seite dürfte das in seinen Augen mit ein Grund gewesen sein für die wirtschaftliche Blüte — und die politischen Erfolge dieser Stadt. Dabei waren etwa im Vergleich zu manchen Griechenstädten oder zu Rom die Unterschiede in der Verfassung so groß auch wieder nicht.
 
Aus der Gründungsphase wird von einer Königin — Dido/Elissa — an der Spitze des Volkes berichtet, und dies entsprach mit Sicherheit der monarchischen Tradition der alten Heimat Tyros. Ziemlich bald aber ist das Königtum von einer konstitutionellen, gemischt aristokratisch-oligarchischen Regierungsform abgelöst worden: Durch Wahl bestimmte »Sufeten« führten zu zweit die Regierungsgeschäfte, später wohl auch schon einmal zu viert. Deren Amtszeit scheint bald eingeschränkt und schließlich auf ein Jahr begrenzt worden zu sein. So erklärt sich, dass die klassischen Autoren sie mit den römischen Konsuln oder den Doppelkönigen von Sparta verglichen haben.
 
Ohne Frage hatten die Sufeten die höchste Gewalt im Staate inne und übten Ämter aus, die früher den Königen vorbehalten gewesen waren. Ihre Macht war nur beschränkt durch den »Rat der Mächtigen«, dessen Mitglieder mit den römischen Senatoren oder den spartanischen Geronten gleichgesetzt wurden. Sie entschieden über Krieg und Frieden und bestimmten offenbar später aus ihrer Mitte ein sanctius consilium, einen heiligen Rat von dreißig Senatoren, der sich besonders den Regierungsgeschäften widmete. Erst spät wurde anscheinend der 104 (oder 100) Mitglieder zählende Gerichtshof eingerichtet, vor dem sich insbesondere die Heerführer (Strategen) am Ende ihrer Feldzüge zu verantworten hatten.
 
Wie effektiv auch immer die Ämter und Gremien mit ihren vielfältigen Kontrollmechanismen gewesen sein mögen, wirkliche Macht im Staate besaß der von der Volksversammlung bestellte, unter bestimmten Umständen vorher von der Heeresversammlung gewählte oberste Feldherr. Hatte er das Format eines Hannibal, so konnte ihm auch ein verlorener Krieg nicht viel anhaben: Der große Mann aus der karthagischen Familie der Barkiden — sein Vater Hamilkar trug den Beinamen Barkas —, der trotz der verlorenen Schlacht bei Zama bis zum Jahr 200 v. Chr. Stratege, oberster Feldherr, geblieben war, wurde für das Jahr 196 noch einmal zum Sufeten gewählt. Freilich, genau so wie man dem Strategen Malcho 450 Jahre zuvor den Zugang zur höchsten Macht im Staate erfolgreich verwehrt hatte, so konnte die städtische Aristokratie jetzt mithilfe ihrer internationalen Beziehungen (zum politischen Gegner Rom!) den wieder allzu mächtig Gewordenen in die Verbannung schicken. Hannibal musste die Konfiszierung aller seiner Güter hinnehmen und floh, wie wir wissen, im Jahr 195 v. Chr. zum Seleukidenkönig Antiochos III. nach Ephesos. Bis zum Tode sollte er auf der Flucht bleiben, die Rückkehr in die Heimat blieb ihm verwehrt.
 
Die Kombination der für Karthago so positiven Bedingungen — der ausgedehnte Fernhandel, die wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie ein gut funktionierendes Staatswesen — begründeten die Stärke dieser Mittelmeermetropole. Die Kraft dieser Stadt war so groß, dass es sogar nach dem verlorenen 2. römisch-karthagischen (Punischen) Krieg zu einer urbanistischen Erneuerung der Stadtgestalt kommen konnte: Die nach Osten zum Golf sich öffnenden Hänge erhielten neue Wohnquartiere mit zum Teil deutlich luxuriösem Zuschnitt. Das »ceterum censeo Carthaginem esse delendam« (»im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss«), das Cicero dem alternden Senator Cato — vor dem entscheidenden 3. Punischen Krieg — in den Mund gelegt hat, es findet in diesem von der Archäologie ergrabenen Befund seine Erklärung.
 
Prof. Dr. Hans Georg Niemeyer
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Phöniker: Ein Volk von Händlern
 
 
Ameling, Walter: Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft. München 1993.
 Beschaouch, Azedine: Karthago. Aus dem Französischen. Ravensburg 1994.
 
Carthage, l'histoire, sa trace et son écho, bearbeitet von Les Musées de la Ville de Paris. Ausstellungskatalog Musée du Petit Palais, Paris. Paris 1995.
 Charles-Picard, Gilbert / Charles-Picard, Colette: Karthago. Leben und Kultur. Aus dem Französischen. Suttgart 1983.
 
Die deutschen Ausgrabungen in Karthago, Beiträge von Jens Holst u. a. 2 Bände. Mainz 1991.
 Elliger, Winfried: Karthago. Stadt der Punier, Römer, Christen. Stuttgart u. a. 1990.
 Huss, Werner: Die Karthager. München21994.
 
Karthago, herausgegeben von Werner Huss. Darmstadt 1992.
 
Karthago - die alte Handelsmetropole am Mittelmeer. Eine archäologische Grabung, Beiträge von Hans Georg Niemeyer, Angela Rindelaub und Karin Schmidt. Hamburg 1996.
 Lancel, Serge: Carthage. Paris 1992.
 Niemeyer, Hans Georg: Das frühe Karthago und die phönizische Expansion im Mittelmeerraum. Als öffentlicher Vortrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften gehalten am 31. 5. 1988 in Hamburg. Göttingen u. a. 1989.
 
Phönizier im Westen. Die Beiträge des Internationalen Symposiums über »Die phönizische Expansion im westlichen Mittelmeerraum« in Köln vom 24. bis 27. April 1979, herausgegeben von Hans Georg Niemeyer. Mainz 1982.
 
Pour sauver Carthage. Exploration et conservation de la cité punique, romaine et byzantine, herausgegeben von Abdelmajid Ennabli. Paris u. a. 1992.
 Vergil: Aeneis. Lateinisch-deutsch. In Zusammenarbeit mit Maria Götte herausgegeben und übersetzt von Johannes Götte. München u. a. 81994.
 Warmington, Brian H.: Karthago. Aufstieg und Untergang einer antiken Weltstadt. Aus dem Englischen. Wiesbaden 21964.

Universal-Lexikon. 2012.

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